"es irrt der mensch so lang er strebt." sagte der herr im prolog. im moment seines sterbens strebt faust nicht, irrt also nicht? wenn er blind, eine vision neben das stellt, was er für ein graben hält, was sein grab ist, das lemuren schaufeln, die proletariern der goethezeit aufmerkwürdig ähnlich sehen, die er andere glaubt: "auf freiem grund mit freiem volke stehn. - im innern hier ein paradiesisch land." doch nicht für diese vision wird er erhoben, sondern: "wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen", sagen die engel; daß das streben direkt oder über geldinflation, ausbeutung menschen tötete, erwähnen sie nicht. ein gericht wäre egal, denn faust sagte nicht: "zum augenblicke darf ich sagen", er sagte: "dürft ich sagen: verweile doch, du bist so schön ..." der teufel überhörte den konjunktiv, sonst wüßte er, daß er die wette verlor und die lustige szene, in der engel mephisto durch sexuelle aufreizung und verweigerung bis zur selbstinfragestellung treiben, vom seelenhaschen ablenken, scheinbar betrügen, fiele weg. mephisto verlor die wette. die engel erhaschten die seele, die selige knaben bereits sehnsüchtig erwarten: "wir wurden früh entfernt von lebechören, doch dieser hat gelernt, er wird uns lehren." was? der herr hatte im prolog gesagt: "wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, so werde ich ihn bald in die klarheit führen." - "er ahnet kaum das frische leben, so gleicht er schon der heilgen schar." sagt eine büßerin im epilog, die sonst gretchen heißt, das heißt, fausts seele ordnete sich in eine gemeinschaft, die nicht über unfreiheit klagt, als lebe sie einsichtig in die aufträge des herrn, die schwebt, als stände sie auf freiem grund. fausts vision scheint im unirdischen verwirklicht. hält sie goethe nur dort für verwirklichbar?
ich las faust und plötzlich eine faszinierend geschriebene allerweltsgeschichte, in der einer wissen will, was die welt im innersten zusammenhält, den anblick der wahrheit nicht erträgt, sterben will, aber nicht kann, weil ein tierischer trieb herrscht, tod - am ende lang genug, der bis in die menschliche unterwelt steigt, gesichter zu erproben, der frierend rücksichtslos in wärme drängt, die ihn an einen menschen bindet, die fessel wird, der er davonläuft, dem anderen scheint es kälter zu werden, er stirbt in wahnsinn, haß oder gleichgültigkeit. das wollte er nicht, doch es ist nicht zu ändern. er hatte geliebt - zerstört. es macht ihn menschenscheuer, auch vor sich selbst. er flieht in reisen, politik, lektüre, phantasien, sich zu beschäftigen, er will ein "dazu". das leibliche kind wurde erwürgt oder ausgeschabt. er will ein kunstwerk schaffen. das kann er ohne menschen; er steigt bis ins wortlose des ichs, ahnungsbeladen aufzusteigen, empfindsamer nach worten zu greifen. schönheit war zwischen den hexen oder huren, verbrodelte dort. eine sehnsucht blieb, trieb ihn an frauen vorüber zum antiken kunstwerk, das schön scheint, eigenartig wärmt, kein bleiben fordert. er ahmt es nach, füllt es mit unterschwellig gewordenem. dieses kind will auffliegen, doch es zerschellt auf dem buch- oder bildermarkt. er aber will schaffen, daß irgendetwas von ihm bleibt. wer nutzt, wird freund, wer nicht, feind. der muß ausgemerzt werden, weil faust der menschheit nutzen will, genutzt haben will: "es soll die spur von meinen erdentagen nicht in äonen untergehn."
"zwei seelen wohnen, ach! in meiner brust." wer kennt das nicht. vor jedem entscheiden sind es mehr oder weniger zwei. aber, wozu mephisto?
"sprach ich vernünftig, wie ich’s angeschaut, erklang der widerspruch gedoppelt laut; mußt ich sogar vor widerwärtgen streichen zur einsamkeit, zur wildernis entweichen und, um nicht ganz versäumt allein zu leben, mich doch dem teufel übergeben." alkohol ist er nicht, syphilis nicht, mephisto - "ein teil von jener kraft, die stets das böse will und stets das gute schafft." mögliches gegen zu einem, der stets das gute will und stets das böse schafft, ist er nicht. ihn trennt von ihr das "stets". eine mögliche antwort ist: er war im volksstück einfach da. ein teufliger und faust. das figurenpaar hatte den schreiber beeindruckt, er wollte beeindrucken. die arbeit verselbständigte sich: er verfrachtete nach und nach erfahrungen eines lebens. ein drama ist kein warenlager, es wurde instinktiver verteilt, es vermenschlichte beide gestalten, jenseits von ganz gut und ganz böse. "faust will, mephistopheles tut." - könnte ein modell heißen, das im nebensatz daraufhin weist, daß faust nicht einmal gretchen hilflos verführen konnte, und der vorschlag, den einer machte, faust in der studierstube einschlafen und sich dieses lebensstück träumen zu lassen, ist nicht ohne reiz. er würde auch im traum, aufbruch des unbewußten sich nicht als teilich verstehen, dem schalk und "böses"-tuendes neben ist, faust bliebe geteilt und beherrschbar. von wem? die geschichte geht ihren gang.
(1985)
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